"Manchmal ging mir Mama verloren" : eine Untersuchung der Mutterfiguren in Günter Grass' Roman "Die Blechtrommel"


Obermann, Eva-Maria



URL: https://www.akademikerverlag.de/catalog/details/st...
Dokumenttyp: Buch
Erscheinungsjahr: 2015
Ort der Veröffentlichung: Saarbrücken
Verlag: AV Akademikerverlag
ISBN: 978-3-639-85435-0
Sprache der Veröffentlichung: Deutsch
Einrichtung: Philosophische Fakultät > Neuere Germanistik II (Hörisch 1988-2018)
Fachgebiet: 800 Literatur, Rhetorik, Literaturwissenschaft
Normierte Schlagwörter (SWD): Mutterimago , Mutterkomplex , Mutterrolle , Mutterschaft , Frau , Grass, Günter : Die Blechtrommel , Nationalsozialismus
Freie Schlagwörter (Deutsch): Günter Grass , Mutterfigur , Die Blechtrommel , die Mutter in der Literatur , Mutterbild , Nationalsozialismus, Deutschland
Abstract: „Manchmal ging mir Mama verloren“ – Eine Untersuchung der Mutterfigur in Günter Grass' Roman 'Die Blechtrommel' fokussiert zentral die Bedeutung der Mutterfiguren in Grass' Meisterwerk der Nachkriegszeit. Dabei wird die zeitgeschichtliche gesellschaftliche Situation der Mutter beachtet, sowie sinnbildliche Mutterfiguren aufgegriffen. Teil der Analyse ist zudem die Betrachtung des Inzest-Motivs, das stark mit den Mutterfiguren des Romans verwoben ist. Tatsächlich fällt schon bei einem ersten Blick auf, dass die entscheidenden Frauenfiguren des Romans Mutterfiguren sind. Sie prägen den Lebensweg des Protagonisten und Erzählers Oskar Matzerath entscheidend und so ist auch der Roman nicht nur in Vorkriegszeit-Krieg-Nachkriegszeit einzuordnen, sondern gleichsam in die passenden Mutterfiguren Anna-Agnes-Maria. Unter diesem Gesichtspunk kann die Verbindung zur Zeitgeschichte nicht außer Acht gelassen werden. Ein allgemeiner Überblick der literarischen Mutterfigur offenbart zudem die Funktion als Mittel der Kritik. Erstaunlich ist dabei, dass die Mutterfigur vermehrt zur Gesellschaftskritik eingesetzt wird. Gleichzeitig fällt auf, dass eine stetige Diskrepanz zwischen idealisiertem Mutterbild und Realität besteht. Vor dem zweiten Weltkrieg ist die Frau oft mit im Betrieb des Mannes oder auf den heimischen Feldern tätig. Ihre Hauptaufgabe ist die Versorgung der Kinder, doch findet dies in vielen Facetten statt und unterscheidet sich in den verschiedenen sozialen Schichten stark. Die Propaganda des dritten Reichs zeichnet für nahezu alle Mütter das Bild des ‚Heimchens am Herd‘, dessen Lebensaufgabe die Bedürfnisbefriedigung des Mannes und der Kinder ist, die zu ‚guten Deutschen‘ herangezogen werden sollen. Die Kriegspflicht der Frau ist, arische Kinder zu gebären und heranzuziehen, zukünftige Soldaten und Mütter. Gleichzeitig forderte dieses Bild eine absolute Selbstaufgabe der individuellen Bedürfnisse zugunsten der Kinder und damit des Deutschen Reiches. Erwerbstätigkeit der Mutter ist verpönt und nur unter besonderen Umständen gestattet. Dieses Bild ändert sich in der Nachkriegszeit und der neu entstehenden Bundesrepublik. Die Sphäre der Frau ist weiterhin Heim und Kinderbetreuung, doch wird dabei eine fürsorgliche Herzlichkeit erwartet, die dem Mann den Raum als Alleinernährer einräumt und den Lebensinhalt in ‚den Freuden der Mutterschaft‘ sieht. Zwar gilt es weiterhin persönliche Wünsche zugunsten der Familie aufzugeben und die Berufstätigkeit der Frau ist gesellschaftlich kaum akzeptiert, doch ist die kalte Beziehung zum Kind einer sanften, liebevollen und hingebungsvollen gewichen. Immerhin wird die Ambivalenz zwischen Mutterschaft und Mutterliebe als natürlicher Teil der Frau seit der Aufklärung immer wieder aufgezeigt und verinnerlicht. In der anschließenden Analyse stehen neben den bereits erwähnten Müttern Anna (Oskars Großmutter), Agnes (Oskars Mutter) und Maria (Oskars Stiefmutter) auch die heilige Maria und die schwarze Köchin zur Debatte. Vor allem Agnes hat mit ihrer Rolle als Mutter zu kämpfen und zerbricht schließlich am Ideal ihrer Zeit und der großen Diskrepanz zu ihrer Wirklichkeit. Zwischen aufopfernder Mutterschaft und individueller Sexualität erkennt sie, dass sie nicht in die Gesellschaft passt. Die Mutterfigur des Nationalsozialismus ist somit eine, die, wie der Roman zeigt, nicht bestehen kann und der keine Frau gerecht zu werden vermag. Selbst Oskars Stiefmutter Maria, die mit den nationalsozialistischen Vorstellungen aufwächst, scheitert auf ihre Weise. Indem sie alle persönlichen Eigenschaften ablegt, wird sie zur farblosen Figur, die hinter ihrem Sohn, dem Mann, zurücktritt. Bemerkenswert dabei ist die Darstellung Annas, unter deren Röcken die Vorstellung des mütterlichen Leibes liegt und die als naturverbunden der ursprünglichen göttlichen Muttervorstellung am nächsten steht. Dieses Mutterbild, so gibt der Roman vor, muss abgelöst werden, bleibt Anna doch zurück. Jene schützende Vorstellung ist verloren, so wie die Röcke der Großmutter, unter denen Oskar die Realität verdrängen kann, nicht länger zugänglich sind. Anna steht damit für die Verdrängung des Krieges, dessen volle Auswirkungen und Schrecken für viele Deutsche erst im Nachhinein deutlich wurden. Die Bedeutung der Mutterfiguren geht dabei über das Individuum Oskar hinaus. Wo Krieg ist, gibt es Opfer wie Agnes und nicht nur die Individualität der Frau, auch die Möglichkeit wirklicher Mutterliebe wird außer Acht gelassen. Die Bezeichnung der Mutterschaft als Kampf der Frau, die damit erzeugte Sphäre des Krieges in Bezug auf das Muttersein, ist es, was Grass als Problem empfindet. Allen drei Müttern gemeinsam ist dabei ihre Ambivalenz. Auf dieses Merkmal legt Grass großen Wert, keine Mutterfigur ist bei ihm absolut gut oder absolut böse. Besonders zeigt sich das bei den metaphorischen Müttern, die Gottesmutter und die Schwarze Köchin, bei denen eine absolute Zuschreibung logisch erscheinen mag. In diesem Rahmen ist die Figur der Gottesmutter Maria eine, die seit ihrem Aufkommen den Muttermythos maßgeblich mit beeinflusst hat und ihn noch immer mit beeinflusst. Doch gerade sie wird durch ihre Tatenlosigkeit und die Machtlosigkeit ihrer Figur zur sinnbildlichen Mörderin der Stäuber. Im Gegensatz dazu ist die furchterregende Schwarze Köchin vor allem in der Todessymbolik Sinnbild der Erlösung und geht in die Figur der Krankenschwester mit ein und tritt als Gegenfigur zur heiligen Maria auf. Daneben zeigt sich bei allen betrachteten Müttern ein starkes Inzestmotiv, das in Oskars Wunsch, die embryonale Kopflage wieder einzunehmen und in den mütterlichen Leib zurückzukehren, Leitmotiv des Romans wird. Tatsächlich können die psychoanalytischen Gründe für das sexuelle Begehren in Oskars Kindheit und der zwiegespaltenen Mutter Agnes gefunden werden. Oskars Verweilen im Aussehen eines Dreijährigen stütz dabei die These der nie vollzogenen Trennung von der Mutter im Kindesalter. Die Blechtrommel, die Oskar bei seiner Geburt von Agnes versprochen wird, wird zum Symbol jener Beziehung. In der Untersuchung des Motivs fällt auf, dass es populär in der Nachkriegsliteratur ist und als aufgezeigtes Tabu die unsagbaren Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft und des Krieges widerspiegelt. Die Mutterfigur in der Blechtrommel ist als entscheidendes Merkmal zum Verständnis des Romans herausgearbeitet. Die Kritik am Nationalsozialismus und Krieg zeigt sich in ihr im gleichen Maße, wie die Kritik der Mutterfigur vor, während und nach dem Krieg. Das Inzestmotiv steht in Form des Rocks der Großmutter und des mütterlichen Leibes sowohl für den Wunsch nach Schutz und Verdrängung vor dem Kriegsschrecken, als auch für die Folgen des überspitzten Mutterbildes. Allein im Rückzug von der Gesellschaft im weißen Krankenhausbett und dem Tod selbst kann Oskar jene Rückführung zur Mutter erwarten, die er wünscht. Die Machtlosigkeit der Kirche wird in der Machtlosigkeit der heiligen Maria gespiegelt. Die Schwarze Köchin dagegen ist nicht nur schreckliche, böse Mutterfigur, die alle jene Eigenschaften in sich versammelt, die der idealen Mutter abgesprochen werden, sondern in ihrer Verbindung zu den Krankenschwestern und Oskars Erlösungswunsch zeitgleich positiv konnotiert. Grass zeigt in seinem Roman damit durchweg eine ambivalente Mutterfigur, die je nach persönlichen Eigenschaften die vorgegebenen Mutterbilder mehr oder weniger erfüllen, jedoch nie vollkommen, und die dadurch gleichzeitig nie frei von Kritik und doch stets bewundernswert und für Oskar Matzerath begehrenswert sind.
Zusätzliche Informationen: Mannheim, Universität, Masterarbeit 2014. - Auch als Online-Ressource




Dieser Eintrag ist Teil der Universitätsbibliographie.




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