Die Europäische Union als Freiheitsgemeinschaft


Kainer, Friedemann



Dokumenttyp: Buchkapitel
Erscheinungsjahr: 2020
Buchtitel: Kernelemente der europäischen Integration
Titel einer Zeitschrift oder einer Reihe: Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration e.V.
Band/Volume: 100
Seitenbereich: 339-366
Herausgeber: Müller-Graff, Peter-Christian
Ort der Veröffentlichung: Baden-Baden
Verlag: Nomos
ISBN: 978-3-8487-6453-2 , 3-8487-6453-9 , 978-3-7489-0577-6
Sprache der Veröffentlichung: Deutsch
Einrichtung: Fakultät für Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre > Bürgerl. Recht, Deutsches u. Europ. Wirtschafts- u. Arbeitsrecht (Kainer 2012-)
Fachgebiet: 340 Recht
Abstract: Die Untersuchung der verschiedenen Facetten der unionalen Freiheitsgewährleistung zeigt, dass die Europäische Union eine vitale Freiheitsgemeinschaft ist: stark in ihrer wirtschaftlichen Binnenrichtung mit dem bewährten und weitgehend ausentwickelten Fundament des Binnenmarktrechts, mit einem mittlerweile weitgehend ausgebauten und gefestigten Grundrechtsschutz, Ansätze von nichtwirtschaftlichen Freiheiten in der Unionsbürgerschaft, Freiheitsgewährleistungen im Rahmen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie eine Reihe von distributiv ausgerichteten „Freiheitsgewährleistungen“, wie sie etwa die Antidiskriminierungsregelungen positivieren. Die hierin zum Ausdruck kommende Entwick-lungsdynamik der europäischen Integration ist der ursprünglich wirtschaftlichen Freiheitsge-währleistung und ihrer Ausgestaltung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu verdanken. Sie hat eine intergouvernemental organisierte Handelsorganisation in ein suprana-tionales Gemeinwesen verwandelt, das auf nahezu allen Politikbereichen präsent ist und dabei im Rahmen seiner Zuständigkeiten viele staatliche Funktionen wahrnimmt. Dabei unterliegt die EU zuweilen einem gewissen Hang zu freiheitseinschränkender Überregulierung, der mit einer Kommission zum Abbau von Bürokratie und einer Selbstbeschränkung der Europäischen Kommission unter ihrem Präsidenten Jean-Claude Juncker nur im Ansatz gegengesteuert wurde. Es wäre vielmehr am EuGH, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit strenger zu prüfen und die Ermessensspielräume der Unionsorgane zu beschränken. Der erreichte Stand mit Blick auf die gegenwärtigen integrationspolitischen Spannungsfelder wirft die Frage auf, welche Entwicklungspotentiale die unionale Freiheitsgemeinschaft heute noch hat. Hier muss die Einschätzung eher nachdenklich ausfallen. Es scheint vielmehr, als ob sich die Integrationsdynamik in dem Maße verringert, wie sich die Integration sachgebietlich verbreitert. Der Grund hierfür ist nicht, dass wirtschaftliche Freiheit heute weniger wichtig ist. Und nicht die Ursache, sondern vielmehr Symptom sind die gegenwärtigen populistisch-nationalistischen Strömungen weltweit und in der Europäischen Union, deren eine Ausprägung die Austrittskampagne in Großbritannien repräsentiert. Es scheint eher, dass die Auf-triebskräfte des wirtschaftlichen Integrationsansatzes sachlich begrenzt sind. Ließ sich die Entwicklung supranationaler Wirkungen des Unionsrechts noch unmittelbar aus dem allseits kon-sentierten Binnenmarktprinzip ableiten, musste schon die weitere Ausentwicklung der Grundfreiheiten und die Ausfaltung der Harmonisierung immer öfter an Grenzen stoßen und wurde der Zusammenhang mit den Freiheiten immer dünner. Die Hinzufügung marktferner oder marktunabhängiger Politiken ohne die Schubwirkung durch gerichtlich durchsetzbare subjektive Rechte mündet in eine Politisierung der Union, die zugleich stärker als früher unterschied-liche Traditionen und Werte offenlegt. Dies zeigt sich etwa an den Zugangspolitiken oder der Sicherheitspolitik, aber auch an privatrechtlichen Materien wie dem unionalen Arbeitsrecht und sehr deutlich an Plänen zu einer (Teil-)Vergemeinschaftung der Sozialsysteme. Es ist den Institutionen gleichwohl über viele Jahre erfolgreich gelungen, den Ausbau des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts voranzutreiben, allerdings um den Preis erheblicher Differenzen insbesondere in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Auf einer anderen Ebene haben die Antidiskriminierungsrichtlinien mit erheblichen Auswirkungen in die nationalen Rechtsord-nungen hineingewirkt und manche traditionellen Gewohnheiten verändert. In der Hinaufzonung der Entscheidung über z.T. tradierte Lebensverhältnisse und Gewohnheiten liegt einer der Gründe, warum die Europäische Union heute als eher bürgerfern verstanden wird und mancherorts an Zustimmung verliert. Dies bedeutet in keiner Weise, dass sich die unionale Freiheitsgemeinschaft überlebt hat, im Gegenteil: Sie hat das Potential, die Union über die verbindenden Wirkungen von Freiheitsge-währleistungen zusammenzuhalten und damit politischen Entwicklungen, mögen sie vielleicht auch behutsamer sein als früher, eine sichere Grundlage zu geben. Dahinter steht schließlich die Einsicht, dass gemeinsame Freiheit verbindet, ihre Beschränkung aber trennt.




Dieser Eintrag ist Teil der Universitätsbibliographie.




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